Liebe Andrea,
der Herbst ist angekommen und sein Beginn markiert, noch deutlicher als der 27. August das tat, das Jubiläum Deines Klinikaufenthalts. 1 Jahr ist es jetzt her und wenn Du diesen Brief liest, werden beinahe 6 Jahre ins Land gegangen sein.
33 Jahre. Wahnsinn! Als Kind dachtest Du, dass das Leben mit 30 vorbei ist. Und wie recht Du fast gehabt hättest, wenn auch auf eine andere Art und Weise, als Du das mit 10 dachtest.
Sind Dir die Momente, in denen Du an der U-Bahn standest und am liebsten einen Schritt vor sie getan hättest, immer noch so präsent?
Ein Teil von mir hofft, dass Du, nein, nicht vergessen hast, das wirst Du nie. Aber er hofft, dass die Wunden heilen konnten.
Neben mir liegt die Quintessenz des letzten Jahres. Nicht, dass ich es bräuchte. Die Erinnerungen sind noch immer so lebendig, als wäre es gestern gewesen.
Aber das schwarze Moleskine, auf das Du in der Kunsttherapie versehentlich Deinen Pinsel gelegt hattest, habe ich trotzdem aus der Schublade unter dem Bett geholt.
Der aus dem Pinsel entstandene Fleck war so schön und sah so beabsichtigt aus, dass Du ihn ergänzt hast. Wie bunte Fische in nachtschwarzem Wasser sehen sie aus.
Ihre Form erinnert an den Schleierschwanz, der im Teich im Garten Deiner Kindheit schwamm. Nur war dieser weiß. Du wolltest ihn einmal besuchen, den Fisch im Teich und kipptest dabei kopfüber ins Wasser.
Damals fing Dich Mama gerade noch auf. Nur Dein Pony wurde nass. Inzwischen lachen wir über diese Geschichte.
Aber jetzt denke ich wieder an sie. Mama hätte Dich am liebsten auch aufgefangen, bevor du in das nachtschwarze Wasser der Depression gefallen wärst.
Kopfüber und kopfunter.
Aber sie konnte es nicht, denn es war Deine eigene Aufgabe. Gerade denke ich wieder an Münchhausen, der sich am Schopf aus dem Sumpf zieht. Und dieses Bild passt immer noch so gut zu dieser ganzen Situation.
Drei Fische sind es. Der rote steht für die Wut, die erst langsam in Dir erwacht. Der rosane für die Sanftmut, die sich hinter der Wut verbirgt und der gelbe für die Falschheit, hinter der Du alles versteckt hast.
Es ist hart, wirklich hart, sich nach langen Jahren des Theaterspielens ins Gesicht zu schauen. Ich weiß.
Aber es war notwendig. Im ersten Eintrag in diesem Journal findet sich folgender Absatz:
„Wir sind für die Freiheit geboren. Vielleicht wäre es an der Zeit, das mal zu akzeptieren und danach zu leben…“
Freiheit…
Hast Du sie inzwischen gefunden?
Hast Du Dich gelöst von allem, was die anderen für frei halten?
Frei von Verantwortung wollen viele sein. Frei von Bindung.
Und Du wolltest das auch. Bis Du gemerkt hast, dass gerade die Dinge, die Dich binden, die sind, die Dich glücklich machen.
Dein Hund, Deine Familie, Deine Freunde, inzwischen auch Deine Leser.
Wie der kleine Prinz hast Du sie gezähmt und nun bist Du für sie verantwortlich. Aber genau das liebst Du doch so sehr. Ich hoffe, Du vergisst das nie.
Überlässt Du Deinem Herzen das Steuer?
Vor der Klinik hast Du einen Großteil Deiner Entscheidungen mit dem Kopf getroffen. Ein Studium? Aber ja, sonst wärst Du ja nichts wert. Was sollte der Mann, ach was, die Welt mit Dir wollen, wenn Du keine Akademikerin bist?
Dass sie Dich lieben und zwar das, was sie nicht mit den Augen sehen können (wenn wir schon beim kleinen Prinzen sind), das wusste und sah er nicht. Und er hätte es auch nicht sehen wollen.
Ich hoffe, Du hast Dir diesen Stachel inzwischen aus dem Fleisch gezogen.
Lass Dein Herz ans Ruder, es weiß, wohin Dein Weg Dich führt. Halte Dich an die Dinge, die Dich glücklich machen.
Allen voran Deine Lieben, das Schreiben und anderen zu helfen.
Ich hoffe inständig, dass Du noch schreibst!
Schon als kleines Mädchen mit weißblonden Haaren träumtest Du von nichts anderem, als zu schreiben. J.K. Rowling, Cornelia Funke, Deine großen Vorbilder.
Du wolltest Geschichten erzählen, um allen anderen zu zeigen, wie wunderbar die Welt ist.
Ich hoffe, das tust Du immer noch. Wenn auch anders, als Du Dir das vorgestellt hast.
Hoffentlich hast Du inzwischen mindestens die drei Bücher veröffentlicht, die mir jetzt gerade im Kopf sitzen! Wie schillernde Paradiesvögel, die kreischend um meine Aufmerksamkeit ringen, in der Hoffnung, dass ich jedem zuerst meine Zeit schenke.
Du musst sie aus dem Käfig lassen, denn Du weißt, das, was Du zu sagen hast, wird vielen Menschen helfen. Wird ihnen zeigen, wie schön das Leben ist. Und es wird ihnen vielleicht sogar helfen, sich selbst zu lieben. Und das war doch im Grunde das, worum es immer ging.
Wo Du jetzt wohl gerade bist, während Du diese Zeilen liest?
Hast Du Dein Traumhaus schon gefunden?
Das, das Dir bei jedem Besuch im Baumarkt vor dem inneren Auge entsteht, wenn Du ehrfürchtig über Fliesen und Holzböden streichst, wie andere über teure Taschen und Designerkleidung?
Ach ich hoffe es so! Dieser Traum begleitet Dich schon so lange. Genauso wie der, eine Zeit in England zu verbringen.
Hast Du das Dilemma mit Hamlet gelöst? Hast Du ihn mitgenommen, den Herzhund in Deine Herzheimat?
Und wie ist das so mit Deinem Äußeren?
Verbringst Du immer noch zu viel Zeit damit, Dich selbst nicht zu mögen? Oder hast Du inzwischen verstanden, dass Dein Äußeres nur Dein Inneres wiederspiegelt? Dass Du außen nur so schön sein kannst, wie es in Dir aussieht?
Hör auf, Dich wegen ein paar Pfund oder den ersten Lachfalten verrückt zu machen.
Denk daran, was ich Dir oben gesagt habe. Das, was die anderen lieben, ist in Dir und hat nichts mit Deiner Nase, Deinem Bauch oder Deinen Beinen zu tun.
Lebe im hier und jetzt und genieße!
Malst Du eigentlich auch noch?
Falls nicht, kram doch mal wieder Deine Pinsel und den Aquarellkasten heraus. Erinnere Dich daran, wie sehr Du es magst.
Erinnere Dich überhaupt daran, dass die wichtigsten Dinge im Leben die sind, die Dein Herz mit Freude und Liebe füllen.
Vergiss den Rest.
Ein paar Seiten weiter im Moleskine findet sich folgendes Zitat, das ich Dir gerne zum Geburtstag schenken möchte:
Als ich Dich sah, verliebte ich mich in dich und du lächeltest, weil du es wusstest.
Es ist zwar nicht Shakespeare aber erinnere Dich doch mal dran, nächstes Mal, wenn Du in den Spiegel schaust.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
Deine Andrea
Ursprünglich hatte ich so einen Brief erst zum Jahreswechsel geplant. Aber Carina, deren eigenen Brief (mit dem sie mich zu Tränen rührte) Du hier findest, hat mich dazu inspiriert, diesen Brief heute zu veröffentlichen.
Mit ihm beteilige ich mich an der #werwillstdusein Aktion der emotion. Bist Du auch dabei?
Suzanne
Liebe Andrea,
wieder einmal bin ich sehr beeindruckt von Dir.
Deine Sprache ist so besonders, poetisch und bildlich! Mal ganz abgesehen davon, wie krass ich es immer wieder finde, dass Du Dein Innerstes hier immer wieder nach außen trägst. Und zwar auf eine Art und Weise, bei der man nicht „wie bei einem Unfall“ wegschauen möchte, sondern die mich persönlich einfach inspiriert – anregt – ermutigt.
Dieser Text lässt es sehr wahrscheinlich anmuten, dass das mit Deinen drei Büchern auf jeden Fall klappt 🙂 Ich gönne es Dir jedenfalls sehr und hoffe, dass in den nächsten 5 Jahren außer den von Dir hier aufgeschriebenen, erhofften, noch ganz viele überraschende tolle Dinge, Menschen und Erfahrungen in Dein Leben kommen.
Danke für diesen tollen Text!
Alles Liebe
Suzanne
Andrea
Liebe Suze,
mit Deinem Kommentar hast Du mich total sprachlos gemacht. Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll außer: Danke! Danke für Deine Worte und Dein Da-Sein <3
Ich drücke Dich!
Andrea
Carina
Liebe Andrea,
erst einmal freut es mich, dass ich Dich zu diesem Artikel inspirieren konnte und vielen Dank für die Erwähnung!
Aber ich finde auch, Du gibst Dir selbst zu wenig Credit, für das, was Du alles schon erreicht hast! Sei stolz darauf! Du hast jedes Recht dazu 🙂
Viele liebe Grüße,
Carina
Andrea
Liebe Carina,
sehr gerne doch! 🙂
Und danke Dir sehr für Deine lieben Worte! Du hast da schon recht, es ist manchmal schwer beim Zurückschauen alles zu sehen, was ich schon geschafft und erreicht hab. Zeit, was daran zu ändern 🙂
Alles Liebe
Andrea