Je weiter Du Dich auf dem Pfad der Eigenverantwortung und in Richtung selbstbestimmtes Leben fortbewegst, desto eher kommt er ans Tageslicht: der Kontrollzwang.
Schon oft hab ich mich gefragt, wie genau die Kontrollfreaks das merken. Haben sie einen geheimen Sensor, der angeht, wenn Du damit beginnst, Dich wieder hinter’s Steuer Deines eigenen Lebens zu schieben? Du kannst noch so leise auftreten, noch so vorsichtig (und manchmal sogar schweigsam) sein – sie merken das.
Ungefähr so, wie mein Hund in einer Sekunde im Tiefschlaf ist und in der nächsten bei Fuß sitzt, wenn ich mit spitzen Fingern und ultraleise ein englisches Toffee aus der Verpackung nehme. Könnt ja was für ihn dabei sein.
So machen die das, nur in unsüß.
Was ist das Ziel der Controlletti in Deinem Leben?
Die beiden obersten Ziele der Kontrollfreaks sind es, Dich a) klein zu halten und sich b) über Dich zu erheben. Je größer der (subjektive!) Abstand zwischen euch beiden ist, desto toller fühlen sie sich. Hundertpro fallen Dir schon jetzt Beispiele ein. Die Nachbarin, die Dich als Kind heruntergeputzt hat, weil Du zu laut die Treppen runtergelaufen bist, der Unsympath, der sich an der Kasse vordrängelt und über die „bösen jungen Leute“ schimpft.
Leider sind die Kontrollfreaks, die in Dein Leben treten nicht nur flüchtige Bekannte, Kollegen oder Menschen auf der Straße.
Häufig sind es Menschen, die wir lieben, zu denen wir aufsehen, Eltern, Geschwister, Verwandte, Vorbilder, die ihren Kontrollzwang an Dir auslassen. Sie wollen „ja nur das Beste für Dich“ (denn das wissen sie ganz genau, viel besser als Du selbst) und Dich vor Fehlern schützen, die sie selbst gemacht haben.
An diesen 5 Eigenschaften erkennst Du Kontrollzwang
Es gibt 5 Merkmale, an denen Du einen Kontrollfreak erkennen kannst und die, wenn Du sie bemerkst, große rote Signalleuchten in Deinem Kopf anfeuern sollten.
Ein Mensch mit Kontrollzwang…
- korrigiert andere, wenn sie daneben liegen (Tippfehler, Aussprache, Details eines vergangenen Moments, schlechte Angewohnheiten, wenn jemand etwas falsches oder unangebrachtes tut), muss immer Recht haben
- dominiert Diskussionen oder will das letzte Wort haben (häufig vermeintlich oder tatsächlich beziehungsunfähig, empfindet Beziehungen auf Augenhöhe als unangenehm, ist selbst das „grünste Blatt am Baum“, der praktischste, logischste Mensch einer Gruppe)
- gesteht Fehler nicht ein (egal wie winzig klein der Streitwert ist, macht sich selbst wegen kleiner Fehler fertig, gibt sie anderen gegenüber aber nicht zu, alles ist schwarz/weiß, Graustufen machen sie nervös)
- verurteilt oder kritisiert andere (hat unglaublich hohe Ansprüche an sich selbst und an andere, kennt den einzig richtigen Weg, wie etwas gemacht wird, den sollen auch alle anderen gehen)
- wird leicht zum Wutmonster und ist unglaublich ungeduldig (zeigt sich häufig beim Autofahren, da der Controlletti alles richtig macht, machen automatisch alle anderen alles falsch, realisiert nicht, dass er durch das eigene rücksichtslose Verhalten sich selbst und anderen im Weg steht)
Wer ploppt in Deinem Kopf auf, wenn Du das liest? An einen Chef, den Du mal hattest, Deine Mutter oder, noch viel unangenehmer, Du selbst?
Ich hoffe, es tröstet Dich, wenn ich Dir sage, dass ich diese Eigenschaften nicht nur von Menschen aus meinem Umfeld kenne. Lange Zeit war ich einer der schlimmsten Kontrollfreaks, die Du Dir vorstellen kannst.
3 Möglichkeiten, wie Du mit Kontrollzwang und Kontrollfreaks umgehen kannst
Liebe sie
Für ihre Imperfektion, für ihre Verunsicherung, für ihre Angst.
Damit meine ich nicht, dass Du alles tolerieren sollst. Nope, gaaanz weit entfernt von dem, was ich empfehle. Aber liebe sie. Bedingungslose Liebe ist etwas, das (D)einen Kontrollfreak verängstigt, wie kaum etwas anderes, denn es stellt ihre gesamte Existenz in Frage, die nur an Bedingungen geknüpft ist.
Liebe sie, vergib ihnen ihr Verhalten, hab Mitgefühl, denn Kontrollzwang ist eine furchtbare Bürde, die sie tragen.
Und dann setze ihnen Grenzen. Rigoros.
Kontrollzwang passiert häufig und entfaltet sich oft zu dem grässlichen Monster, das er ist, weil Du seine Existenz billigst. Du willst keinen Streit, glaubst, Dein Gegenüber wisse es wirklich besser als Du, möchtest niemanden enttäuschen.
Das ist Bullshit mit ganz großem B. Du tust niemandem einen Gefallen, wenn Du die Verantwortung für Dich selbst an der Pforte abgibst. Hol sie Dir zurück.
Sprich es an und aus
Am besten heute noch. Friss Deinen Ärger nicht länger in Dich rein, lass nicht zu, dass der Groll und der Frust noch größer werden.
Formuliere Deine Botschaften als Ich-Botschaften, gewaltfrei und nicht anklagend. Sei dennoch deutlich, mach Deinem Gegenüber klar, auf welches Verhalten Du Dich beziehst, was Du ab jetzt nicht mehr tolerieren wirst und auch, was Du Dir stattdessen wünschst.
Kontrollierendes Verhalten bei Dir selbst loswerden
Es ist schmerzhaft, aber ungeheuer wichtig, hinzusehen und Dir eigene Fehler einzugestehen (siehe #3). Einsicht und der Moment, in dem Du die Verantwortung übernimmst, sind immer auch eine Möglichkeit, Dich zu heilen.
Call yourself out on your own bullshit heißt das im Englischen, benenne selbst den Bullshit, den Du gemacht hast. Ertappe Dich dabei, wenn Du dabei bist, wieder in alte Verhaltensmuster zu fallen.
Du hast dem Kontrollzwang ein pompöses Zimmer in Deinem Inneren eingeräumt, in dem er es sich gemütlich gemacht hat. Es gehören immer zwei dazu. Akzeptiere das, aber hab keine Geduld mehr mit dem rebellischen Teenager, der Dich selbst und andere unter seine Fuchtel bringen will. Weise ihn bestimmt in seine Schranken.
Im zweiten Schritt kannst Du mit den Menschen sprechen, die Du kontrollieren wolltest. Dein Partner, Deine Familie, Deine engen Freunde. Vertrau Dich ihnen an und beziehe sie mit ein in die Veränderung.
Und noch viel wichtiger als alles: liebe Dich selbst, bedingungslos. Mach Dich nicht fertig für die „Fehler“, die Du gemacht hast. Sei gut zu Dir. Du selbst hast am meisten gelitten unter Deinem Kontrollzwang.
Du kannst jetzt loslassen.
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Dani
Wow! Danke für diesen Beitrag! Ich habe mich leider in den ersten beiden Punkten wiedererkannt und werde daran arbeiten. Dankeee!!!!
Leonard
Liebe Andrea,
es tut so gut deinen Blog zu lesen! Die Beiträge sind grandios.
Danke, dass du deine Erkenntnisse mit uns allen teilst.
Ich habe schon gemerkt, dass ich als männlicher Leser hier eher eine Seltenheit bin.
An alle Männer da draußen: Seid ihr selbst. Traut euch. Das meiste was in unserer Gesellschaft als „männlich“ gilt, ist aus meiner Sicht nicht anderes als vor sich selbst davon zu laufen.
Liebe Grüße,
Leonard
Andrea
Bitte verzeih die späte Antwort, Leonard! Mein Danke für Deine lieben Worte und schön dass Du hier bist kommt aber nicht weniger von Herzen!
Anna
Ich bezweifle sehr stark, dass das so einfach ist. Mir ist es bisher nicht gelungen, mein Kontrollverhalten aufzugeben, weil sich da viele unbewusste Prozesse abspielen, die man mit „lass mal los“ nicht beseitigen kann. Wenn dem so wäre, müsste man einem Drogensüchtigen auch nur anraten loszulassen und dann ist er geheilt 😀 ohne professionelle Hilfe geht da gar nichts …
Andrea
Damit ist natürlich kein krankhaft zwanghaftes Verhalten gemeint. Und auch wenn ich mich jetzt aus dem Fenster lehne, körperliche Prozesse mal außen vor gelassen, prinzipiell wäre es oft so einfach. ABER man selbst muss diese Veränderung wollen, jemandem zu raten, sich zu verändern KANN auf fruchtbaren Boden fallen, meistens tut es das aber nicht. Mein Essverhalten z.B. läuft auch extrem automatisiert ab. Wenn mir jemand anders sagt: „Andrea, iss mal weniger und beweg Dich mehr!“ hat das genau gar keinen oder schöner noch, einen gegenteiligen Effekt.
Wenn der Wunsch zur Änderung aber aus mir selbst kommt, sind da ganz andere Energien am Werk. Sei mal bisschen fröhlicher hat mir nicht geholfen, aus der Depression rauszukommen. Sondern Sturheit und Arbeit und jeden Tag wieder aufs neue auf der Matte zu stehen, weil ich wollte, dass es mir besser geht. Das war auch nicht aus dem Antrieb meiner Therapeutin heraus, sondern aus meinem eigenen. Abgesehen davon finde ich professionelle Hilfe in vielen Bereichen großartig. Aber auch der tollste Therapeut hilft nix, wenn man selbst nicht dahintersteht.