In der Zeit, bevor ich meine lebensverändernde Diagnose bekommen habe (die, wie gute lebensverändernde Momente das so an sich haben, völlig banal begann*), war mein Leben primär von Angst geprägt.
Zeitweise war es so intensiv, dass mir die Ängste den Schlaf raubten. Ich lag wach oder dämmerte vor mich hin. Ich vermied den Hauptbahnhof und alle anderen neuralgischen Punkte, die mir gute Ziele für Bombenanschläge schienen.
Einge Tage lang – ich erinnere mich immer noch gut daran – war es sogar so schlimm, dass ich meine Augen nicht mehr schließen wollte, weil ich Angst hatte, nicht mehr aufzuwachen. Mein Blutdruck war gefühlt andauernd auf 280, ich fraß nur noch, aber das half auch nichts.
Ich fuhr nicht mehr Auto, zu gefährlich. Ich stieg in keine S- oder U-Bahn mehr ein. In einer Blechbüchse unter der Erde herumfahren? Ääh nein danke!
Meinen Hund ließ ich nicht mehr von der Leine, weil ich Angst hatte, dass er überfahren wird und als ich erfuhr, dass meine Schwester ein Kind erwartet, hätte ich mich am liebsten vergraben. Ein kleines, schutzbedürftiges Wesen, dass man nicht 200%ig in Watte packen kann? Me out!
Ist das Angst?
Wir sind uns wohl einig: Ich hatte die Hosen gestrichen voll. Vordergründig hatte ich sogar echt gute Ausreden dafür, dass ich nicht mehr aus dem Haus ging oder nur noch mit der Tram in die Arbeit gurkte (über eine Stunde lang…).
Aber je mehr ich mich mit meiner Angst beschäftigte, je mehr ich hinsah und je tiefer ich den Dingen, die mich ängstigten auf den Grund ging, desto deutlicher wurde mir eines.
Wann auch immer meine Angst anfing zu brennen, steckte dahinter die Sorge, die Kontrolle zu verlieren. Wie Öl entzündete und befeuerte sie meine Angst.
Ich bin immer noch nicht ganz sicher, woher dieser Wunsch nach absoluter Kontrolle kommt.
Was ist es, das Dich dazu bringt, alles im Griff haben zu wollen? Was ist es, das Ungewisstheit, das Spontaneität zu Deinem Feind erklärt?
(Und all das hätte ich auch mit ichs und michs schreiben können – aber es wird besser, auch die Sache mit der Spontaneität. Siehe #19 – auch da hat sich viel getan!)
Ich glaube einfach, wir Menschen (und gerade wir Frauen) haben gerne das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben.
Du weißt genau, wann in der Früh Dein Wecker klingelt, dass Du dann frühstückst, duschst und Dir die Zähne putzt. In dieser Reihenfolge.
Dass um 8:32 Deine U-Bahn fährt, für die Du um spätestens 8:25 aus dem Haus gehen musst. Und Du um 12:30 Mittagspause machst. Dass Du am Wochenende Deinen Einkauf erledigst und 5 Wochen Urlaub im Jahr hast. Jeden zweiten Samstag im Monat besuchst Du Deine Eltern, gebierst 1,47 Kinder und mit exakt 76,3 Jahren lässt Du Deine sterblichen Überreste hinter Dir.
Ist das mein neu erwachtes Bewusstsein oder klingt das einfach nur unheimlich?
Das große Unbekannte
Einer meiner wichtigsten Lehrmeister hier war der – immer gern zitierte – Albus Dumbledore, mein liebster Charakter aus der Harry Potter-Buchreihe.
In Band Nummer 6 sagt er zu Harry folgendes:
Es ist das Unbekannte, das wir angesichts von Tod und Dunkelheit fürchten, sonst nichts.
-Albus Dumbledore
Und das Unbekannte ist einfach nur eine Umschreibung für Ereignisse, die jenseits unserer Kontrolle liegen.
Kann ich kontrollieren, ob mein Hund zum falschen Zeitpunkt über eine Wiese läuft und von einem anderen Hund angefallen wird? Nein.
Kann ich kontrollieren, ob der U-Bahnfahrer heute schlecht geschlafen und Stress mit seiner Frau hat und deshalb ein Signal übersieht? Nein.
Kann ich kontrollieren, wann meine Zeit abgelaufen ist? Nein.
Und das ist es doch. Wir fürchten, was wir nicht verstehen. Wir fürchten, was wir nicht kontrollieren, messen, bewerten und einschätzen können.
Diese Erkenntnis war für mich schon mehr als die Hälfte der Lösung.
Ja, natürlich wollte ich nicht die Kontrolle verlieren. Aber ich habe auch deutlich gemerkt, dass eine Vermeidungstaktik bei mir genau das Gegenteil bewirkt hat.
Je mehr ich meinen Ängsten auswich, desto größer wurden sie. Je mehr ich es hinauszögerte, nach meiner Panikattacke wieder in die U-Bahn zu steigen, desto größer war die Hürde, es zu tun.
Und genau deshalb wählte ich meinen Weg ganz bewusst.
Nieder mit dem Kontrollverlust!
Ich habe diesen Weg für mich in drei Schritte aufgeteilt. Jap nur 3. Schritt 1 ist die Erkenntnis, dass wir vor dem Unbekannten Angst haben, wenn wir Tod und Dunkelheit fürchten.
Daraus folgt logischerweise Schritt 2 – für mich war das ein Buch, das ich Dir leider nicht guten Gewissens empfehlen kann. Nicht, weil es nicht gut wäre – ich fand es grandios. Aber weil es bei mir oben erwähntes Herzrasen und diesen „Mach ja nicht die Augen zu, Du wirst sie nie wieder aufschlagen“-Zustand hervorgerufen hat.
Die wichtigste Lektion im Buch aber möchte ich mit Dir teilen: Sie lautet ganz banal „Memento mori“. Gedenke des Todes. Sei Dir dessen bewusst, dass Du sterben wirst.
Der Autor führt aus, dass wir 3 Wege haben, mit dem Tod umzugehen:
- Gedanklich in weite Ferne rücken, damit wir nicht drüber nachdenken müssen
- Von der Wiedergeburt/ einem Himmel ausgehen und
- Uns ständig ablenken
Und wenn ich so überlege, wie es mir bis dahin ging, merke ich, dass er recht hat. Nur nicht dran denken, nur nicht zu präsent haben! Das passiert erst wenn ich 80 bin, frühestens! Bis dahin ist noch jede Menge Zeit.
Ähm, ja?
Wir alle hatten diese Menschen in unserem Leben, bei deren Todesanzeige wir schlucken musste.
Mit 19 frontal an den Baum gefahren, mit 45 an einem Hirnschlag gestorben, mit 26 dem Krebs zum Opfer gefallen.
Niemand weiß, wann es vorbei ist. Und im Prinzip stellte der Autor genau die Frage, die ich in diesem Artikel auch schon auseinandergenommen habe: Was ist das schlimmste, was passieren kann? Die Universalantwort ist: Irgendwann stirbst Du.
Wenn Du das annehmen kannst, ist keinerlei Täuschung mehr nötig. Für mich war das so befreiend.
Plötzlich habe ich mir erlaubt, Entscheidungen ganz anders zu treffen. Denn bis es soweit ist, bis ich gehen werde, möchte ich mein bestes Leben leben. Mein Leben nicht von einem Stück Papier dominieren lassen, die Wahrheit sagen, mich lieben und wertschätzen und es niemandem recht machen, außer mir selbst.
Und Schritt 3 ist der, den ich jeden Tag gehe. Ich konfrontiere meine Angst. Ich klettere auf Leitern und schaue von hohen Gebäuden herunter, ich lasse los, mich selbst, meinen Hund, meine Lieben.
Ich lebe. Das gute Leben. Das beste Leben. Nicht nur einmal, sondern jeden Tag.
Denn Jetzt ist immer alles, was wir haben.
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* Und zwar an einem unspektakulären Juliabend in der Münchner U-Bahn am Weg zu einem Sommerfest
Meine Liebe,
ein schöner Artikel, ein tiefer Artikel, und ich kenne ja den Hintergrund und drücke Dich nochmal digital so fest es geht!
Noch vor einem halben Jahr hätte ich den Artikel nicht zu Ende lesen können, weil jeder Gedanke an Tod in mir Panik ausgelöst hat.
(Ich bin so stolz und glücklich, dass es heute anders ist.)
Inzwischen nutze ich das Anerkennen meiner Vergänglichkeit als Motor dafür, immer wieder „mutige“ Entscheidungen zu treffen und meinen ganz eigenen Weg zu gehen.
Ich kann daher sehr gut nachvollziehen, was Du beschreibst und möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Tatsächlich ist „Jetzt“ IMMER alles was wir haben! 😀
Alles Liebe
Deine Suze
P.S.: Wie kommst Du auf die 76,3? 😉
Hallo Liebes,
argh ich wollte eigentlich noch eine Warnung einbauen, hab ich komplett vergessen. Zum Glück ist das heute anders! Denn das wäre absolut nicht meine Intention gewesen!
Und ja, Du hast vollkommen recht. Es ist immer alles, was wir haben 🙂 Ich glaub, ich ergänze das noch.
Ich umarme Dich digital ganz fest zurück!
Andrea
PS: Statista 😉
Liebe Andrea,
ich finde es immer wieder sehr beeindruckend wie offen du über all diese Dinge sprichst und ich glaube, dass du damit verdammt vielen Menschen direkt in die Seele guckst und ihnen auf ihrem Weg weiterhilfst.
Ich selbst kenne diese Angst vom völligen Kontrollverlust nicht, auch die Angst vom Tod ist nicht wirklich ausgeprägt. Ich hatte dennoch so eine Phase als Kind, in der ich sehr stark darüber nachgedacht habe und kann mich auch an die Angst erinnern, die mich damals begleitete.
Ich wünsche dir auf jeden Fall ganz viel Erfolg auf deinem weiteren Weg! 🙂
LG – Anja
Hallo Anja,
vielen Dank für Deinen lieben Kommentar 🙂
Ich glaube, diese Ängste finden sich irgendwo in jedem von uns, aber eben in ganz verschiedenen Abstufungen. Ist ja auch gut, dass das so ist! 😀
Alles Liebe
Andrea