„Warum warst Du so gemein zu uns? Was haben wir Dir getan?“ Der Mann, der mich das fragt, hat traurige, dunkle Augen. Vorwurfsvoll deutet er auf ein Häufchen Elend, das neben ihm auf einem Stuhl sitzt. Seine Kollegin, sie weint leise in ein Taschentuch. Er geht zu ihr hin und streicht ihr beruhigend über den Rücken. Mit tränenfeuchtem Gesicht sieht sie dankbar zu ihm auf, dann mich an. Sie schluchzt und vergräbt sich in ihren Händen.
Ich wache schweißgebadet auf. In meinem Bauch ein Knoten, der mich nicht richtig atmen lässt. Dann lache ich hysterisch los.
Seit einiger Zeit erhalte ich ungefragt Newsletter von SEO-Agenturen.
Diese Newsletter haben keinen Abmelden-Button, den findet man nur auf der Website. Nachdem ich die E-Mails bisher also gelöscht habe, bin ich vorgestern auf die Seite und habe mich ausgetragen.
Da es mich nervt, wenn ich Werbe-E-Mails erhalte, die ich nicht bestellt hab, schrieb ich der Firma. In 2 Sätzen schilderte ich dass ich mich nie angemeldet hätte und das kein gutes Geschäftsgebaren ist.
Heute Nacht träumte ich von den Mitarbeitern dieser spammigen SEO-Agentur.
Ich wünschte, ich würde übertreiben.
Bäm. Ich fühlte mich schuldig.
Ich wurde komplett überrollt von meinen Schuldgefühlen. Und das war nicht das erste Mal in dieser Woche. Bestimmt hast Du es schon auf Facebook gelesen oder Dich gewundert, warum letzte Woche kein Artikel kam. Am Valentinstag wachte ich mit Halsweh auf und innerhalb weniger Stunden war ich komplett überrollt von einem schweren Virus.
Seither sind 3 Wochen vergangen und laaaangsam werde ich wieder fitter. Du erinnerst Dich sicherlich, dass ich meinen Job gekündigt habe. Mein letzter Arbeitstag wäre der kommende Freitag gewesen. Jap. Genau.
Und gestern hätte noch ein großes Projekt stattgefunden. Was heißt hätte, es fand statt. Nur eben ohne mich.
Immer wieder rutschte ich also in den vergangenen Wochen in die Schuldgefühlsfalle.
Bestimmt hast Du sowas auch schon öfter erlebt. Du wirst krank, wenn es gar nicht passt. Kollegen müssen Deine Aufgaben übernehmen. Und Du musst Dich entscheiden: Entweder Du schleppst Dich in die Arbeit, wo es Dir scheiße geht und Du schlimmstenfalls alle ansteckst und fühlst Dich deshalb schuldig. Oder Du bleibst zuhause, wo es Dir auch scheiße geht, aber immerhin etwas besser und fühlst Dich deshalb schuldig.
Oder Du bestehst auf Dein Recht, Du sagst die Wahrheit – so wie ich dieser blöden SEO-Agentur – und fühlst Dich hinterher schuldig.
Immer häufiger habe ich hier das Gefühl, egal wie ich es mache, mach ich’s verkehrt. Kommt Dir das bekannt vor?
Wofür sind Schuldgefühle da?
Ich habe gelernt, dass es zwei Arten von Schuldgefühlen gibt. Einerseits produktive und andererseits unproduktive.
Produktive Schuldgefühle
Schauen wir uns zuerst die berechtigte Schuld an.
Sie tritt z. B. in diesen Situationen auf:
- Du hast schlechte Laune und lässt die an Deinem Gegenüber aus
- Du sagst etwas verletzendes zu einem lieben Menschen
- Du fühlst Dich schlecht, weil Du eine ganze Tüte Chips gegessen hast
Berechtigt bedeutet in diesen Fällen nur, dass Du aus der Situation und Deinem Fehler lernen kannst.
Wenn Du Deine schlechte Laune an jemandem auslässt, obwohl die Person nichts dafür kann, fühlst Du Dich mies. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist, in Dich hinein zu hören. Warum fühlst Du Dich schlecht? Was fehlt Dir und was hättest Du gebraucht? Willst Du Ruhe und jemand hat Dich gestört? Fühlst Du Dich ungerecht behandelt usw. Wenn Du das nächste Mal in dieser Situation bist, kannst Du ihr anders begegnen.
Verletzt Du einen anderen mit Deinen Worten, solltest Du auch hier in Dich gehen und überlegen, warum Du das gesagt hast. Aus welchem Gefühl heraus kam Deine Aussage? Hast Du Angst um die Person, fühlst Du Dich nicht wertgeschätzt? Auf jeden Fall solltest Du Dich entschuldigen.
Die Schuldgefühle, die Dich heimsuchen, wenn Du eine Tüte Chips oder eine ganze Tafel Schokolade in einem verputzt hast, sind ein Warnsignal Deines Unterbewusstseins. Das weiß, dass das jetzt kein supergesunder Snack zwischendurch war. Diese eine Tüte Chips hat ungefähr die Hälfte der Kalorien, die Du an einem Tag zu Dir nehmen solltest und enthält ca. 60g Fett (das nur am Rande, ich hab das mal eben gegoogled). Die Schuldgefühle geben Dir die Möglichkeit, Dein Verhalten zu reflektieren und zu ändern.
Unproduktive Schuldgefühle
Im Gegensatz zu ihren fleißigen Geschwistern haben sie keinen positiven Effekt auf Dich. Sie tauchen auf, obwohl Du es nicht nötig ist, dass Du Dein Verhalten reflektieren oder ändern solltest.
Sie tauchen in Situationen auf, in denen es nicht wirklich etwas gibt, weshalb Du Dich schuldig fühlen solltest.
Nimm die Tatsache, dass Du zuhause bleibst, wenn Du krank (geschrieben) bist. Natürlich bleibst Du daheim, das steht gar nicht zur Debatte. Ein Arzt hat festgestellt, dass Du arbeitsUNFÄHIG bist. Dabei ist es übrigens komplett irrelevant ob wegen körperlicher oder seelischer Probleme!
Das gleiche gilt für Situationen, in denen Du um Deine Rechte gebracht werden sollst. Unser ehemaliger Vermieter hat das mit mir einmal versucht. Ich würde zu viel Wäsche waschen – das musst Du Dir mal auf der Zunge zergehen lassen! Natürlich habe ich mich im ersten Moment schuldig gefühlt. Und zwar genau, bis seine Aussage meine Gehirnwindungen passiert hatte.
Manchmal kommt es außerdem vor, dass Du Dich für Ereignisse schuldig fühlst, an denen Du nichts ändern kannst. Etwa wenn der Partner Deiner besten Freundin sie verlässt und Du immer noch glücklich in Deiner Beziehung bist. Oder jemand aus Deinem Umfeld keine Kinder bekommen kann, Du aber schon.
So wirst Du Deine Schuldgefühle los
Der erste Schritt sollte immer ein in Dich horchen sein. Achtsamkeit kann Dir hierbei helfen.
Nimm Dir einen Moment Zeit und komm zur Ruhe. Spüre, was in Dir los ist. Wie fühlt sich Dein Körper an? Bist Du angespannt? Hast Du einen Knoten im Bauch? Fühlst Du Dich, als könntest Du nicht richtig durchatmen? Wie fühlt sich Deine Geist an? Bist Du traurig? Fühlst Du Dich überfordert oder überwältigt von Deiner Schuld? Verwechselst Du ein anderes Gefühl mit Schuld? Auch das kann passieren!
Welche Situation ist Auslöser Deiner Schuld? Und in welche Kategorie fallen Deine Gefühle.
Der Umgang mit produktiver Schuld ist wieder einer dieser „gleichzeitig leichter und schwerer“-Fälle. Du hast deutlichere Anzeichen, weil sich das Gefühl meistens auf eine konkrete Situation bezieht. Aber natürlich ist da der Umstand, dass Du einen Fehler gemacht hast.
Ruf Dir die Situation ins Gedächtnis, ziehe für Dich eine Lehre daraus und mach wieder gut, was in Deiner Macht steht. Entschuldige Dich, wenn Du jemanden grundlos angemacht oder verletzt hast. Überlege Dir, wieso Du diese Tüte Chips gebraucht hast (beliebte Stresskompensation) und was Du alternativ in solchen Momenten tun könntest.
Und das wichtigste: Vergib Dir selbst! Jeder hat mal einen Scheißtag, jeder nascht mal drei eine Tafeln Schokolade auf einmal! Es passiert und die Welt dreht sich weiter.
Bei unproduktiven Schuldgefühlen gibt es leider kaum eine andere Möglichkeit, als sie gehen zu lassen. Sie sind unberechtigt und deshalb kannst Du auch nichts an Deinem Verhalten ändern um die Situationen in Zukunft zu vermeiden.
Klar, Du kannst Dich gesünder ernähren, Dich wärmer anziehen und Dein Immunsystem aufbauen. Aber manchmal wirst Du krank, so ist das eben! Sicherlich hättest Du es Dir anders ausgesucht, wenn Du die Wahl gehabt hättest. Ich war bester Gesundheit und dann 12 Stunden später war ich es nicht mehr.
Was mir besonders hilft, ist das Wissen, dass jeder ersetzbar ist. Egal welcher Kollege wann wie lange ausfällt – es wird jemanden geben, der die Aufgaben übernehmen kann. Das hören viele nicht gerne, klar wir alle werden gern gebraucht, aber es ist die Wahrheit. #sorrynotsorry
Du kannst auch weder den Exfreund Deiner Freundin bekehren, noch mit Deinem Partner Schluss machen oder kinderlos bleiben um ja niemanden zu verletzen. Deine persönliche Freiheit einschränken, damit Du Dich nur ja nicht schuldig fühlst ist eher uncool, da sind wir uns sicher einig.
Wenn es Dir schwer fällt, Deine Schuldgefühle so einfach loszulassen, such Dir ein Mantra. Das kann etwas einfaches sein wie mein „Ich bin ersetzbar“ oder „Ich kann [die Situation] nicht ändern“. Mach es nicht unnötig kompliziert, ein einfacher Satz reicht. Und den sagst Du Dir jetzt immer wieder vor. Bequatsche Dich so lange mit der Schallplatte mit Sprung, bis Du Dir selbst glaubst.
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