„Warte mal kurz, ich bezahl nur schnell, dann bin ich sofort wieder für Dich da!“
Genau diesen Satz habe ich vor einiger Zeit an einer Supermarktkasse überhört. Die junge Frau vor mir hatte ihr Smartphone zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, fischte mit der Hand nach ihrer EC-Karte und versuchte gleichzeitig, ihre Einkäufe in ihre Tasche zu manövrieren.
„Du hattest angerufen? Ich wollte mich nur mal eben zurückmelden!“
Das hörte ich vorgestern auf dem Heimweg von einem Termin.
Und jedes Mal, wenn ich etwas ähnliches höre, sei es von meiner Familie, Freunden, Kollegen oder Wildfremden, dann zuckt mein rechtes Augenlid.
Und das passiert oft.
Ich will Dich gleich mal vorwarnen: Der heutige Artikel beinhaltet wahrscheinlich keine flauschigen Hundewelpen oder Regenbogen.
Dafür macht mich das Thema viel zu wütend.
Wäre ich Martin Luther King hätte ich wahrscheinlich nur einen Traum. Und zwar, dass Du, ich, wir alle endlich aufhören, alles SCHNELL zu machen!
Neben der Absurdität Multitasking ist diese dämliche Hektik der größte Klotz an Deinem Bein.
Mal schnell
Es sind nicht nur Menschen Deiner (und meiner) Generation, sondern gefühlt die ganze Gesellschaft, die unter dieser Krankheit leidet.
Ich nenne sie die Mal-Schnell-Seuche. Klingt so ähnlich, wie die Maul-und-Klauenseuche, ist aber was anderes.
Seit einiger Zeit wird alles „mal kurz“, „mal eben“ und „mal schnell“ gemacht.
Egal ob es um Essen geht, um den Gang zur Toilette, um Einkaufen oder Behördengänge, um Telefonate und Kontaktpflege.
Immer geht alles schnell, wir wollen nur ja nicht zu lange fernbleiben oder, noch schlimmer, nicht erreichbar sein!
Wo kämen wir denn hin, wenn jemand auf Dich warten müsste. Und natürlich willst Du niemanden belästigen, niemandes Zeit stehlen (schon gar nicht Deine eigene!).
Denn Zeit ist ja bekanntlich Geld und sowieso viel zu knapp bemessen und muss um jeden Preis gespart werden!
Versteh mich nicht falsch, ich liebe coole Tipps und Lifehacks zum Zeit sparen genauso sehr wie Du! Aber dabei geht es um Effizienz, es geht darum, dass Du eine bessere Möglichkeit findest, wie Du Aufgaben erledigst, damit Du mehr Zeit frei machst für die Dinge, die Dir wirklich wichtig sind.
Nur noch halb so lang abwäscht, damit Du die Zeit mit Deinem Liebsten haben kannst. Du E-Mails im Pulk beantwortest um den Arbeitsgebieten, die Dir Spaß machen, mehr Raum zu geben.
Stressfaktor Schnelligkeit
Und jetzt kommt das große Aber.
Wenn Du alles mal schnell, mal kurz, mal eben erledigst, produzierst Du Dir und anderen die.ganze.Zeit Stress – und zwar verdammt viel davon.
Du sagst das einfach ohne Hintergedanken und – leider – auch ohne eine Idee, was genau Du damit anrichtest.
Man sagt das eben so, nicht wahr?
Blöderweise tust Du damit niemandem einen Gefallen. Ganz im Gegenteil.
Ein Großteil des Stresses, unter dem Du tagtäglich leidest, ist selbstgemacht.
Stell Dir mal vor, wenn Du in der Arbeit „nur noch schnell“ eine Aufgabe erledigst. Wie hoch, denkst Du, stehen dann die Chancen, dass Dir ein Fehler passiert, den Du „mal eben“ übersiehst?
Und dann gerätst Du in immer größeren Stress, eine Stressspirale. Du musst die Aufgabe noch mal erledigen, bekommst einen Rüffel Deines Chefs. Manchmal genügt auch ein kleiner, konstruktiver Hinweis, um Dein Stresslevel in die Höhe schnellen zu lassen.
Der größte Feind der Qualität ist die Eile.
-Henry Ford
Ein anderes Beispiel: Wenn Du mal „schnell“ auf die Toilette gehst oder Dir nur „mal kurz“ was zu essen holst, untergräbst Du damit Deine essentiellen Bedürfnisse.
Du gestehst Dir also nicht zu, in aller Ruhe pinkeln zu gehen oder ganz entspannt etwas zu essen, dabei Kraft zu tanken und mit frischer Energie zurück an die Arbeit zu gehen.
Und gehen wir noch einen Schritt weiter – ich hoffe, es wird Dir jetzt nicht zu theoretisch: Durch Deine Aussagen suggerierst Du Dir und allen anderen dass Zeit ein knappes Gut ist.
Wenn Du eine wirtschaftliche Ausbildung hast, dachtest Du bestimmt gerade: Ja, stimmt doch auch!
Ich spreche hier nicht vom Arbeitsfaktor Zeit – der ist knapp, ja.
Ich spreche von Deiner Zeit, jeden Tag.
Du hast 24 Stunden à 60 Minuten à 60 Sekunden zu Deiner Verfügung.
Davon, dass Du zur Toilette rennst oder so schnell isst, dass Dir davon schlecht wird, hat niemand was, am allerwenigsten Du selbst.
Dieses kopflose Gerenne durch Dein Leben kostet Dich Nerven, Energie und lustigerweise auch Zeit.
Wenn Du im Stechschritt zur Toilette eilst, vergeht die Zeit genauso langsam oder schnell, als würdest Du ganz normal hingehen. Die Zeit vergeht sowieso und aufheben und mitnehmen – geht nicht!
Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.
-George Orwell
Die Mal-langsam-Challenge
Ich möchte Dich zu einer Challenge einladen. Du kannst sie total leicht in Deinen Alltag integrieren und wenn Du Dich für Stufe 1 entscheidest, wird niemand merken, dass Du teilnimmst.
Ab sofort, morgen, Montag, wann auch immer Du möchtest, geht’s los:
Stufe 1: Du streichst die 3 „mals“ aus Deinem Wortschatz: Mal schnell, mal eben, mal kurz – gibt’s nicht mehr. Ab sofort holst Du Dir was zu Essen, Du gehst zur Toilette, Du erledigst einen Anruf, eine Aufgabe, einen Einkauf. Wenn Du Dich dabei ertappst, einen der Ausdrücke zu benutzen, korrigiere Dich. Das fühlt sich erst mal seltsam an, aber Dein Kopf nimmt es wahr.
Stufe 2: Alles von Stufe 1 + wenn Du Kollegen, Freunde, Verwandte hast, die alles schnell machen oder Dich bitten, „mal kurz“ das und das für sie zu tun, weise sie daraufhin, dass Du die Aufgabe gerne erledigst, aber in Deinem eigenen Tempo. Ich hatte z.B. mal eine Kollegin, die immer „schnell um’s Eck“ verschwand. (Der Büroslang für „Ich muss mal“). Irgendwann riet ich ihr, sich Zeit zu lassen, ich wäre ja da und wolle nicht, dass sie zur Toilette rennt.
Wahrscheinlich kommst Du Dir am Anfang blöd vor, aber Du reduzierst damit nicht nur das Stresslevel der anderen. Du nimmst Dir selbst nämlich den Druck, auch alles schnell/ kurz/ eben zu erledigen.
Stufe 3: Ich nenne sie die Reise nach Jerusalem. Statt der endenden Musik, hast Du hier andere Signale. Immer wenn Du mal schnell/ mal langsam/ mal eben hörst, frierst Du ein. Diese Stufe ist ein wahnsinniger Spaß! Ich hab sie schon mal gemacht. Immer wenn jemand mal schnell was von mir wollte, habe ich einmal ganz tief ein- und ausgeatmet und dann langsam und bedächtig weitergemacht. Das verwirrt die Leute, aber es ist ein wahnsinnig gutes Training für Dich selbst. So lernst Du, Dich gegen übertragenen Stress zu wappnen.
Stufe 4: Ja, aber – Wenn jemand Dir seinen Stress übertragen will, sagst Du: Ja, ich erledige das gern (nicht schnell!), aber vorher mache ich das und das (=Deine eigenen Aufgaben fertig – gilt nicht für Priorität A-Aufgaben durch Vorgesetzte übertragen oder Krankenwagen rufen etc.).
Wenn Du Dich selbst dabei ertappst, wie Du noch schnell diese Aufgabe einschieben willst, schreib sie Dir in Dein Arbeitsbuch oder auf Deine To-Do-Liste und wende Dich ihr erst zu, wenn Du Dich wirklich (!) auf sie einlassen kannst. Den vorher oft erwähnten Toilettengang lässt Du hier am Besten raus.
Ich starte gleich heute mit Stufe 1-4, bei uns im Büro ist die Mal-schnell-Seuche nämlich auch schon wieder ausgebrochen. Und ich mach jetzt erst mal langsam!
Danke mal wieder für diesen tollen Beitrag. Ich hab mich ein bisschen ertappt gefühlt. Denn wie oft will ich auch nur mal schnell noch was machen. Die Challenge finde ich spannend und werde auf jeden Fall dran teilnehmen. Mal sehen was sich ändert.
Liebe Sarah,
freut mich total, dass Du den Artikel magst! Ich bin durch die Challenge auch mal wieder sensibilisiert – diese verflixten mal schnells schummeln sich wahnsinnig schnell 😉 wieder in den Wortschatz! Wie läuft es bisher?
Liebe Grüße!
oh ich musste mich neulich auch mal selbst entschleunigen – hatte es gar nicht bemerkt, dass alles husch husch gehen musste. Du bringst es auf den Punkt. Bei mir fing es an, dass ich mir Frühstück im Bett verordnete, das hab ich früher sehr geliebt. Beim ersten Mal konnte ich es gar nicht geniessen. Da war die Stimme die meinte, das kannst Du doch genau so gut angezogen im Wohnzimmer genießen….. nach 3 mal „verordnet“ kam der alte Genuss zurück. Nun schaue ich schon begierlich, wann es wieder möglich ist. Ich war tatsächlich entwöhnt.
Wie gut, dass Du so deutlich bist um uns den Spiegel vorzuhalten.
Dir einen lieben Gruß
Greta
Liebe Greta,
das ist eine tolle Idee! Ich hab manchmal das Gefühl, dass unser gesamtes Leben auf möglichst hohe Effizienz ausgelegt ist. Sehr gut, da auch mal auf den Bauch zu hören, was der sich wünscht 🙂 Genieß Dein nächstes Frühstück im Bett!
Andrea
Ich find das vollkommen normal zumindest am Wochenende. Denn schließlich ist man die ganze Woche am arbeiten, und da will man man so schnell wie möglich alles erledigen. Denn schließlich hat man dann um so mehr was vom Wochenende.