Dieser Artikel hätte beinahe den hübschen Titel „Warum ich seit fast 2 Jahren keine Nachrichten schaue (und was das mit der aktuellen Situation in Deutschland zu tun hat)“ gehabt. Aber dann habe ich mich umentschieden.
Ich möchte heute nicht polarisieren. Ich möchte keine Kommentare wie „Aber Nachrichten sind doch so wichtig!!“ und „Du MUSST doch informiert bleiben“ hören. Denn ich muss gar nichts. Außer sterben. Und damit sind wir auch schon mitten drin im Thema.
Angst
In der Zeit, bevor ich meine lebensverändernde Diagnose (die heute übrigens eher zweifelhaft zu betrachten ist) bekommen habe, die, wie gute lebensverändernde Momente das so an sich haben, völlig banal begann, war mein Leben primär von Angst geprägt.
Zeitweise war es so intensiv, dass mir die Ängste den Schlaf raubten. Ich lag wach oder dämmerte vor mich hin. Ich vermied den Hauptbahnhof und alle anderen neuralgischen Punkte, die mir gute Ziele für Bombenanschläge schienen.
Einge Tage lang – ich erinnere mich immer noch gut daran – war es sogar so schlimm, dass ich meine Augen nicht mehr schließen wollte, weil ich Angst hatte, nicht mehr aufzuwachen. Mein Blutdruck war gefühlt andauernd auf 280, ich fraß nur noch in mich hinein, aber das half auch nichts. Ich fuhr nicht mehr Auto, zu gefährlich. Ich stieg in keine S- oder U-Bahn mehr ein. In einer Blechbüchse unter der Erde herumfahren? Ohne mich!
Meinen Hund ließ ich nicht mehr von der Leine, weil ich Angst hatte, dass er überfahren wird und als ich erfuhr, dass meine Schwester ein Kind erwartet, hätte ich mich am liebsten vergraben. Ein kleines, schutzbedürftiges Wesen, dass man nicht 200%ig in Watte packen kann? Me out!
Und dennoch: Wie besessen las ich jedes Fitzelchen News, wie eine Schaulustige, die am Unfallsort steht und sich jedes blutige Detail einprägt. Ich sah mir Nachrichten und Dokumentationen an, diskutierte über aktuelle Geschehnisse und warf Zeitung um Zeitung wie Zunder in die glühenden Kohlen meiner Angst.
Und dann hörte ich auf.
Von einem Tag auf den anderen machte ich Schluss mit den Nachrichten, mit dem Radio, dem Fernsehen, News-Websites, einschlägigen Facebook-Seiten und Twitter-Accounts.
Kontrollverlust
Denn je mehr ich mich mit meiner Angst beschäftigte, je mehr ich hinsah, desto deutlicher wurde eines.
Wann auch immer meine Angst anfing zu brennen, steckte dahinter die Sorge, die Kontrolle zu verlieren. Wie Öl entzündete und befeuerte sie meine Angst.
Ich bin immer noch nicht ganz sicher, woher dieser Wunsch nach absoluter Kontrolle kommt.
Was ist es, das Dich dazu bringt, alles im Griff haben zu wollen? Was ist es, das Ungewisstheit, das Spontaneität zu Deinem Feind erklärt? (Und all das hätte ich auch mit ichs und michs schreiben können – aber es wird besser, auch die Sache mit der Spontaneität (siehe #19 – auch da hat sich viel getan!)
Das große Unbekannte
Einer meiner wichtigsten Lehrmeister hier war der – immer gern zitierte – Albus Dumbledore, mein liebster Charakter aus der Harry Potter-Buchreihe.
Es ist das Unbekannte, das wir angesichts von Tod und Dunkelheit fürchten, sonst nichts.
-Albus Dumbledore
Und das Unbekannte ist einfach nur eine Umschreibung für Kontrollverlust.
Wir fürchten vieles, was wir nicht verstehen. Und so kommen wir auch wieder bei meinem bewussten Verzicht auf Nachrichten an. Und warum das noch nicht alles ist.
Denn für mich war das Wissen um den Auslöser meiner Angst nur die eine Hälfte der Lösung.
Ja, natürlich wollte ich nicht die Kontrolle verlieren. Aber ich habe auch deutlich gemerkt, dass eine Vermeidungstaktik bei mir genau das Gegenteil bewirkt hat.
Je mehr ich meinen Ängsten auswich, desto größer wurden sie. Je mehr ich es hinauszögerte, nach meiner Panikattacke wieder in die U-Bahn zu steigen, desto größer war die Hürde, es zu tun.
Und genau deshalb wählte ich meinen Weg ganz bewusst.
1 Jahr später
Diesen Artikel schrieb ich bereits vor einem Jahr und habe ihn nie veröffentlicht. Ich wollte kein Öl ins Feuer gießen, nicht polarisieren, nicht politisieren und das wichtigste war ohnehin schon passiert: ich hatte mir meine Gedanken und Gefühle von der Seele geschrieben.
Und dann loggte ich mich heute auf Amazon ein. Wenn ich Dir hier etwas empfehle, nutze ich Affiliatelinks. Kaufst Du etwas über einen dieser Links, erhalte ich eine kleine Provision ohne Mehrkosten für Dich. Amazon ist hier einer meiner Partner.
Am gestrigen Tag gelangte jemand über einen meiner Links auf Amazon und entschied sich letztenendes für eine Dose „Verteidigungsspray Pfeffer“.
Soll ich Dir was sagen? Wenn ich könnte, würde ich die 66 Cent Provision abweisen und dem Käufer eine Umarmung schicken. Aber der einzige Weg, der mir bleibt, ist es, diesen Artikel doch noch zu veröffentlichen. In der Hoffnung, dass Du das Spray nicht nutzen wirst, Dich nicht Deiner Angst vor dem Kontrollverlust hingibst.
Am Tag, an dem Du das Pfefferspray nutzt, sind sie alle grundlos gestorben. An diesem Tag gewinnen jene, deren einzige Botschaft die Angst ist.
Mach den Fernseher aus, lass die Zeitung stecken und begegne den Menschen mit einem offenen Herzen.
Sie alle haben es verdient, einer aber besonders: Du selbst.
Volltreffer! Ich sehe es genau wie du und handhabe es genau wie du. Schön wie du es in Worte fassen kannst. Ein wunderbarer Artikel. Einige reagieren genau wie du sagst, “aber man muss doch..“ – sie leben für mich noch gefangen im alten System. Ich möchte diese nicht einfach ausschliessen, im Gegenteil, ich würde si gerne öffnen für zusätzliche Wege und Möglichkeiten. Aber trotzdem meine Energien schützen. Wie verhälst
Du sprichst mir mal wieder aus der Seele! Ich lese/höre/schaue auch schon seit mindestens einem Jahr keinen Nachrichten mehr, und es geht mir soviel besser damit! Das wirklich Wichtige kriegt man schon irgendwie mit, aber inzwischen kann ich ganz gut steuern wie ich damit umgehe und auch, es nicht mehr so sehr an mich ranzulassen. Am Anfang habe ich es gemacht, um meiner Angst- und Panikstörung nicht noch mehr (negative) Nahrung zu geben, sondern mich stattdessen auf das Positive in meinem Leben konzentrieren zu können. Das hat mir soviel mehr Lebensqualität gebracht, und auch wieder Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft…
Oooh jaaaaa! Ich mag euch Nachrichten-Nicht-Gucker sehr! In meinem Umfeld bin ich wohl weit und breit die Einzige…..
Stellt euch mal vor, es würden in dem großen Stil positive Meldungen über den ganzen Globus verbreitet…. Ich schwöre euch, die Welt wäre eine bessere. 😇